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Positionspapier für die Umsetzung einer modernen Suchtprävention in Berlin in der Berliner Gesundheitspolitik

14. September 2021Allgemein

Legislaturperiode 2021 – 2026

Gesundes Berlin – Drogenpolitik liberalisieren und Suchtprävention stärken

Die Berliner Gesundheits- und Sozialpolitik wird aufgefordert, das Aktionsprogramm Gesundheit (APG) zu intensivieren unter besonderer Berücksichtigung der psychischen Gesundheitsbelastungen im Zuge der Covid-19-Pandemie.

Die Berliner Politik soll den begonnenen Kurs fortsetzen bzw. ausbauen, riskantem Drogenkonsum und Abhängigkeit vorbeugen in dem Wissen, dass die psychischen Belastungen im Zusammenhang mit Covid19 die Risikofaktoren für eine Abhängigkeitserkrankung erheblich verschärft haben.

Rahmenbedingungen

Die Fachstelle für Suchtprävention ist in ihrer koordinierenden Funktion weiterhin das Zentrum für Suchtprävention in Berlin. Sie übernimmt die Geschäftsstelle des Berliner Kooperationsgremiums Suchtprävention und vertritt Berlin im Rahmen der Bund-Länder-Kooperation auf Ebene der BZgA.

Die Fachstelle beteiligt sich an allen Entwicklungsvorhaben zur Berliner Sucht- und Drogenpolitik und steht Politik, Verwaltung und NGO als verlässlicher Partner mit Fachexpertise zur Seite.

Suchtprävention und frühe Intervention bedürfen vor dem Hintergrund der aktuell noch höheren Belastungssituation vulnerabler Zielgruppen, der ständig wachsenden Stadt und der in Berlin stattfindenden Cannabis-Regulierungsdebatte einer adäquaten politischen Gewichtung und gesicherten Finanzierung.

Handlungsfelder mit besonderen Bedarfen

Cannabisprävention

In einer Befragung von 2.257 Schüler*innen in Präventionsveranstaltungen im Alter von 12- 20 Jahren zwischen 2017 und 2021 gaben 31% der Befragten an, bereits Konsumerfahrungen gesammelt zu haben. Bei einem durchschnittlichen Erstkonsumalter von 14,4 Jahren, zeigt sich ein besonders hoher Bedarf an präventiven Maßnahmen insbesondere für die Altersgruppe der 13- bis 15-Jährigen. Hier ist eine zielgruppengerechte Ausgestaltung suchtpräventiver Angebote, unter Berücksichtigung der Qualitätsanforderungen an eine evidenzbasierte Suchtprävention, vonnöten. Der Ansatz Abstinenz durch Verbote herstellen zu wollen, muss in Berlin als gescheitert angesehen werden. Deshalb muss Politik Sucht(prävention) neu denken und im Kontext von psychischer Gesundheit gezielter integrative Ansätze der Cannabisprävention fördern. Hierzu gilt es, einen weiteren Ausbau und eine dauerhafte Stärkung sowohl der universellen, selektiven als auch der indizierten Prävention zu lancieren.

Wir wissen aus der Suchtforschung, dass Abhängigkeitsentwicklungen einher gehen mit psychischen Belastungssituationen und sozialer Ungleichheit. Cannabis dient bei riskant und abhängig Konsumierenden oftmals als Mittel, um die Härten des Alltags (Leistungsdruck, Perspektivlosigkeit u.a. auf dem Arbeitsmarkt, soziale Deprivation uvm.) ausblenden zu können. Politik schafft die Rahmenbedingungen für unsere Gesellschaft. In diesem Sinne ist es an ihr, verhältnispräventiv gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, unter welchen gemeinsame und persönliche Herausforderungen für die Bürger*innen Berlins bewältigbar bleiben. Suchtprävention ist folglich nicht allein Aufgabe der Pädagog*innen, Psycholog*innen und Kliniker*innen. Sie ist ein hochpolitisches Feld. Mit der Debatte über Cannabisregulierungsmodelle entscheidet die Politik aktiv darüber, in welche Richtung sich Cannabisprävention in den kommenden Jahren entwickeln wird. Zugleich prägt die Debatte Konsumentscheidungen v.a. von jungen Menschen in hohem Maße: Cannabis wirkt in der Wahrnehmung von vielen Schüler*innen in Berlin bereits als legal.

Politik ist daher aufgefordert, die politische Debatte an den sozialen Realitäten orientiert zu führen und in Abstimmung mit Entscheidungsträger*innen in Justiz und Suchtprävention Klarheit in der Cannabispolitik zu schaffen. Bezogen auf Kinder und Jugendliche muss das Ziel dabei weiterhin bleiben, den Konsum von Cannabis möglichst gering zu halten. Hierfür ist ein Ausbau und eine stärkere finanzielle Förderung der Arbeit an den Schnittstellen zwischen Schule, Jugendarbeit, Jugend(gerichts)hilfe, Elternarbeit und Trägern der Suchtprävention unabdingbare Voraussetzung.

Förderung von Lebenskompetenzen zur Prävention von riskantem Konsumverhalten

Suchtprävention leistet einen zentralen Beitrag zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit und bedarf immer eines Blickes auf die aktuellen Erkenntnisse und Bedarfe der jeweiligen Zielgruppe. Angesichts der psychischen Folgeerscheinungen der Corona Pandemie ist riskantes Konsumverhalten als mögliches „Ventil“ zur Bewältigung von Belastungen ein erheblicher Risikofaktor für Abhängigkeitserkrankungen. Hinzu kommt, dass der Leistungsdruck und die ungleichen sozialen Bedingungen / Chancen in unserer Gesellschaft, zugespitzt in einer Millionenmetropole, insbesondere für vulnerable Menschen, eine manifeste Belastung darstellen. Die Förderung von Gesundheits- und Lebenskompetenzen ist zentrales Anliegen, um einen kompetenten Umgang mit Belastungssituationen zu vermitteln und Menschen im Sinne des Capability Approach zu befähigen, kompetent mit der eigenen Gesundheit umzugehen.

Neben der Förderung von Lebenskompetenz bei jedem und jeder Einzelnen, bedarf es zudem eines Ausbaus verhältnispräventiver Maßnahmen. Hier ist insbesondere der politische Wille für den Abbau von Kinder- und Jugendarmut gefordert, um die gesellschaftliche Chancengleichheit, über die Lebenskompetenzförderung hinaus, zu verbessern.

Kinder in suchtbelasteten Familien

Deutschlandweit lebt laut Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung für 2020 jedes 4. – 5. Kind in einer suchtbelasteten Familie. Zahlen für Berlin liegen bis heute nicht vor. Seit Jahren fordern Träger, dass z.B. bei Erhebungen zu Kinderschutzfällen auch die Suchtbelastung in der Familie erfasst werden. Im Zuge der kommenden Regierungsverhandlungen sollten sich Politiker*innen aller Parteien für mehr Sichtbarkeit von Kindern in suchtbelasteten Familien einsetzen. Qualifizierungen für Fachkräfte sollten öffentlich finanziert werden, um diese darin zu befähigen, in ihren Arbeitskontexten Kinder und Jugendliche direkt und niedrigschwellig zu erreichen, um ihre Schutzfaktoren gegen eine eigene Suchterkrankung zu stärken.

Soziallagenbezug

Prävention ist dort erfolgreich, wo sie direkt und niedrigschwellig an den Bedürfnissen der Adressat*innen anknüpft. So soll der Soziallagenbezug der Suchtprävention in Berlin nachhaltig kontinuierlich handlungsleitend bleiben. Vor allem in Wohnvierteln, die durch schwierige soziale Lagen charakterisiert sind, braucht es Angebote, die die alltäglichen Herausforderungen der Menschen in den Blick nehmen (Arbeitsplatzverlust, finanzielle Sorgen, Krankheit, Alleinerziehendsein, Überforderung mit dem verzweigten Berliner Hilfssystem uvm.). Mit der Berliner Präventionspraxis hat die Fachstelle für Suchtprävention eine Anlaufstelle für Betroffene, Familien und weitere Bezugssysteme geschaffen. Damit wird eine Versorgungslücke geschlossen, die sich einerseits durch lange Wartezeiten auf Beratungs- und Therapieangebote und andererseits durch mangelndes Know-How zu Sucht und Prävention in der Sozialen Arbeit, generiert hat. Dieses Angebot verhindert, dass Menschen in Berlin durch die Maschen der sozialen Sicherungssysteme fallen könnten und muss unter besonderer Berücksichtigung von Post-Covid bereits im Haushaltsgesetz 2022/2023 aufgestockt werden.

Qualifizierung von Fachpersonal in der Suchtprävention und einheitliche Qualitätsstandards

Die Arbeit in der Suchtprävention ist kein Berufsfeld, das abgestimmten, allgemeingültigen und berufsrechtlich geschützten Standards unterliegt. Dies führte in der Vergangenheit zu einem wahren Flickenteppich suchtpräventiver Ansätze und Methodiken in Deutschland und Berlin. Mit dem Zertifikatskurs „Fachkraft für Suchtprävention“ an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, hat die Fachstelle für Suchtprävention in Kooperation mit der Hochschule die erste Hochschulqualifizierung im Bereich der Suchtprävention geschaffen. Ziel der Berliner Hochschul- und Gesundheitspolitik sollte es sein, die Akademisierung der Suchtprävention als Ausdruck der Qualitätssicherung aktiv voranzubringen und somit das Thema Sucht und Prävention gesellschaftlich aufzuwerten und als Bestandteil der Gesundheitsförderung zu verorten.

Kerstin Jüngling und Anke Timm

Geschäftsführung Fachstelle für Suchtprävention Berlin gGmbH